DIE
ZUKUNFT
BAUEN
Die Produktionsstätten sind
beeindruckend. Unvermittelt
eröffnet sich hinter den großen
Fensterscheiben des Gebäudes ein
idyllischer Ausblick auf die Berge,
den Kirchturm von Briord oder
grasende Pferde auf der Weide.
Die entspannte Atmosphäre ist
ebenfalls überraschend, zumal
wenn man bedenkt, dass auf den
insgesamt 118 000 m
2
der fünf
Produktionsstätten von Ligne
Roset an die 800 Handwerker
95Prozent der Möbel und
Accessoires herstellen, die
weltweit verkauft werden. Das
Arbeitspensum ist manchmal sehr
straff, denn Tag für Tag verlassen
bis zu 300 Sitzmöbel das Werk
in Briord. Momentan allerdings
verleiht eine Näherin in den mit
Tageslicht erhellten Werkshallen
mit sicherer Hand und in aller
Ruhe dem komplexen Sofabezug
von
Ploum
den letzten Schliff, für
dessen Fertigung sie insgesamt 30
Minuten braucht. Anschließend
wird der Bezug auf die gekonnt
zugeschnittenen, skulpturhaften
Schaumstoffelemente mit
unsichtbaremMetallgestell
aufgezogen, die in der Nähe auf
ihre Weiterverarbeitung warten.
Ganz ohne Eile verbindet ein
Möbelbauer mit einem aus-
geklügelten Fadenziehersystem
zwei Einzelteile zu einem
Element, dessen Polsterung an
ein Chesterfield-Sofa erinnert
– allerdings in der Version für
das 21. Jahrhundert. »Ich war
gemeinsam mit den Brüdern
Bouroullec
an der Entstehung
des Sofas
Ploum
beteiligt. Eine
lange Geschichte
«,
erinnert sich
Ludovic Auchet, technischer
Direktor imWerk Briord, amüsiert.
»
Das geschwungene Metallgestell
und die Entwicklung eines su-
perweichen Schaumstoffs haben
uns vor große Schwierigkeiten
gestellt, die wir zunächst überwin-
den mussten. Aber wir lieben ja
solche Herausforderungen.
«
Allein
die Entwicklungsphase für die
Memory-Formschaum-Formel
dauerte zwei Jahre und erforderte
eine intensive Abstimmung mit
dem Zulieferer. Eine Investition,
die sich gelohnt hat. Das 2011
herausgebrachte Sofa
Ploum,
ein
modernes, ultrabequemes Nest,
ist wie
Togo
oder
Prado
(
Christian
Werner
) ein echter Renner. Seine
Entwicklung ermöglichte indirekt
auch die Konzeption von
Manarola
(2016) von
Philippe Nigro:
Ein
eleganter und sehr komfortabler
Sessel mit Sitz und Rücken aus
einem einzigen Schaumstoffblock,
der auf einem Fußgestell aus
Bugholz ruht, das an eine Wiege
erinnert.
»
Technische Innovationen
gehen immer mit innovativen
Formen einher
«
, erläutert Michel
Roset, der für Gestaltung und
Design zuständige Geschäftsführer.
»
Wenn wir ein neues Produkt
angehen, nehmen wir uns die Zeit,
die wir brauchen, um ein optimales
Ergebnis zu erzielen. Natürlich
funktioniert das nicht immer, aber
wir bedauern nie, es versucht zu
haben.
«
In einem anderen Teil der
Werkshalle vollenden zwei mit
Scheren bewaffnete Näherinnen
die Arbeit eines Nähautomaten.
Sie entfernen rasch ein paar
Fäden an strategischen Punkten.
Als die Näherinnen mit dem
Finish fertig sind, erkennt man
die für das Modell
Ruché
von
Inga Sempé
(2010) typischen
Absteppungen. Auch hierzu
gibt es eine schöne Geschichte
zu erzählen. Die Designerin hat
Stunden über Stunden damit
zugebracht, den Bezug auf ihrer
eigenen Nähmaschine abzustep-
pen. Ligne Roset hat dann in eine
Industrienähmaschine investiert,
die speziell dafür entwickelt
wurde, die besonderen Feinheiten
der Absteppung im großen
Maßstab zu reproduzieren.
»
Der
Stil von Ruché inspiriert unsere
Konkurrenten, aber dank unserer
innovativen Technologie konnte
uns niemand kopieren
«
, legt
Ludovic Auchet dar. Auch wenn
Maschinen eine große Rolle bei
technischen Innovationen spielen,
die untrennbar mit dem Erfolg von
Ligne Roset verbunden sind, spielt
doch ein weiterer wichtiger Faktor
eine entscheidende Rolle: die
Zeit. Zeit zum Ausprobieren und
Nachdenken. In diesen Werkshallen
gibt es keine Eile, und so werden
auch die kommenden Kapitel in
der Geschichte des Möbelbaus mit
ruhiger Hand geschrieben.
REPORTAGE
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